Letzten Freitag war frei in Taiwan, da bin ich mit der Kamera in Zentrum von Taipei. Es war etwas gespenstisch, Stacheldraht und Polizisten mitten in der Stadt zu sehen. Noch immer, auch während ich diese Zeilen schreibe, halten ja Studenten in Taipei das Parlament (genauer: den Plenarsaal) besetzt.
anonymisiert ;-)
Zunächst war ich noch im Zentrum, grob mit Kurs auf das Hochhaus "101", das 101 Stockwerke hoch ist. Da merkte man noch nichts von Aufständen. Kurz wunderte ich mich über eine Gruppe konservativ, aber wenig elegant gekleideter Leute, die irgendwie landlebig aussahen, aber ziemlich fremd klingend kommunizierten. Und der Herr im weißen Hemd starrte mich an, an sei ich ein Marsmensch. Das man mitten in Taipei angestarrt wird als "Westler" ist doch eher selten. Aha, dachte ich. Das muss eine Reisegruppe aus China sein. In der Tat folgte die Gruppe einem Herrn mit Stab und kleinem Fähnchen (nein, keine rote), wie sie Gruppenreiseleiter eben haben. Auch Gattin und ich waren ja kürzlich in Japan einem solchen Fähnchen hinterher gerannt. Sicher hatten die Kurs auf das Hochhaus "Taipei 101". Die Leute wirkten so, wie man sich Leute vom Lande aus der tiefsten Provinz vorstellt, die sich "stadtfein" machen. Ob die wohl auch zu den Studentenprotesten gefahren wurden, fragte ich mich. Wohl nicht. Wie würden sie reagieren wenn sie hören, dass Taiwan sie vielleicht als Touristen, nicht aber als Oberherren will?
[F] Ich folgte der Gruppe grob ins Hochhaus 101, auch wenn kurz ein Audi-Rennwagen meine Aufmerksamkeit auf sich zog...
[R] Äh.... wo waren wir? Ach ja, 101. Diese Hostessengeschichte ist auch so typisch Taiwan. Never mind.
[R] Nicht zu verfehlen, das Ding, ist ja eher hoch als breit. Jedenfalls meistens.
[F] Im angeschlossenen Kaufhaus (rechts) fand ich dann auch die chinesische Reisegruppe wieder.
[F] Ein schöner Konsumtempel, dessen Publikum sich wohl eher für die teuersten Handtaschen und Armbanduhren interessiert (oder die günstige Fressmeile im Tiefgeschoss)...
[F] ... hier nicht im Bild, als für die Politik und die Studentendemo.
[R] Der erfolgreiche Kapitalismus mit sozialstaatlichen Elementen der Taiwanprägung hat seine eigenen, systemimmanenten Konflikte. "Wissen Sie, was die aufdringliche Dame da will?", scheint der Filmstaar rechts auf der übergroßen Werbewand neben dem 101 zu fragen. Wir wissen es auch nicht.
[TZ] Vom Hauptbahnhof Taipei suchte ich wieder die Studenten, hier ist das Viertel weniger überkanditelt. Obwohl ein Modellbahner, der das Haus im Bild als Bausatz hätte, wohl mehrere Nervenzsammenbrüche erleiden würde, irgendwo zwischen dem 50. und 51,. Werbeschild und 18. und 19. Balkon.
[TZ] Ich ermahnte mich wieder, dass es mir um die Sache der Studenten ging und nicht um die duftenden Leckereien an den Ständen. Die Studenten wollten klarmachen, dass hier nicht Rotchina ist, so viel ist klar.
[SW] Ein kurzer Abstecher über den "228"-Park, der sich auf den 28. Februar 1947 respektive das an diesem Tag stattgefundene Massaker bezog, an dem die Taiwaner gegen die chinesischen Besatzer vom Festland aufgestanden waren und das Kuomintang (KMT) - Militärregime entsprechend brutal zurück geschlagen hatte (http://de.wikipedia.org/wiki/Zwischenfall_vom_28._Februar_1947). Die Insel Taiwan war bis 1945 eine japanische Kolonie gewesen (seit 1895) und war nach der Jalta-Konferenz an die chinesische KMT-Regierung übgeben worden, die den aufgeflammten Freiheitswillen der Taiwaner brutal unterdrückt hatte und sich weiter in Taiwan eingenistet hatte. Das hatte offenbar bestand, denn noch immer sitzt die KMT im Gouverneurs- respektive Präsidentenpalast in Taipei, der laut meinem Smartphone-Navidings ganz in der Nähe lag. Allerdings sitzt der Präsident (Herr Ma von der KMT) da mittlerweile frei gewählt (2008 gewählt, 2012 wiedergewählt) und fährt seither einen starken Kurs Richtung chinesisches Festland, das die KMT 1949 an die Kommunisten verloren hatte. Inklusive politischer und wirtschaftlicher Annäherung. Wogegen die Studenten demonstrieren (streng genommen nur gegen den letzten Teil der Annäherung, einen Handelspakt, siehe meinen großen Demobericht HIER im Blog).
[TZ] Alsbald führte mich mein Navidings zu diesem merkwürdigen Kinderspielplatz, der mit Stacheldraht abgeschirmt war und dem sich diverse erschöpft wirkende Polizisten in ihren dunkelblauen Uniformen erholten. Was war da los?
[TZ] Die Frage ließ sich schnell beantworten, während ich mit meiner Kamera auf die angeschlossene Allee trat, von müden aber misstrauischen Polizistenaugen verfolgt. Der Spielplatz war als Barriere gegen eventuell aufkeimende Demos oder Besetzungsversuche angelegt, sozusagen als Wellenbrecher.
[TZ] Denn links ging es zu weiteren Regierungsgebäuden und auch zum Parlament laut meinem Navi, wobei der Zugang mit Stacheldrahtzäunen abgesperrt war. Man erkennt sie im Hintergrund. Näher wollte ich nicht heran, denn die zahlreichen Polizisten, die neben einigen auffällig unauffällig herumstehenden Passanten die einzige Bevölkerung dieses sonst so stark frequentierten Teils von Taipei ausmachten, gaben mir das Gefühl hier nicht wirklich erwünscht zu sein. Irgendwo hinter den Barrieren mussten sich also Studenten im Parlament und beim Soli-Sitin befinden. Aber meine Lust, hier nach einem Weg da durch zu suchen, hielt sich in Grenzen. Mit auf meiner Navi-Route befindlichem Stacheldraht (nicht das erste Mal) und wenig Zeit neben Beruf und Familie ist es mit dem Barrierebrechen so eine Sache.
...Barriere diesmal...
[TZ] Rechter Hand jedenfalls lag der Präsidentenpalast in Taipei...
[TZ] Als ich dieses Foto vom Präsidentensitz machte und wegen des diffusen Lichtes ein bisschen an meiner Kamera herumstellte, näherte sich mir ein in Zivil gekleideter Herr vom Palast kommend und machte eine Handbewegung, ich solle aufhören und schrie "guo lai", jedenfalls verstand ich das. Das würde zu Deutsch "komm her!" heißen, aber ich hatte wenig Lust, dieser Aufforderung nachzukommen. Wenn einen Hunde anbellen oder sich Regierungsagenten nähern, bleibt man immer ruhig und souverän, macht das Foto zu Ende, noch eines dazu und entfernt sich dann ruhigen Schrittes ;-)
Wenn sie den Palast geheim halten wollen, müssen sie sich natürlich was einfallen lassen, schließlich ist er im Normalbetrieb ein Ziel für Reisebusse, sicher auch für chinesische Reisegruppen. Ist ja auch schon ein bisschen groß, um ihn zu verstecken. Vielleicht ein verwirrendes Schild anbringen? "Lustifus Edelpils-Brauerei" vielleicht. Kommt kein Mensch drauf, dass das der Präsidentenpalast ist.
[TZ] Mein zielstrebiges Verlassen der gastlichen Stätte führe mich zunächst zu einigen Polizisten und massenhaft Barrieren, die Herren in Blau habe ich hier lieber nicht abgelichtet.Eigentlich eine ruhige Geschäfts- und Wohnstraße.
[TZ] .... und die Bürgerkriegsbarrieren nahmen sich direkt neben den typischen Garküchen (vor denen die Polizisten saßen und aßen) etwas merkwürdig aus.
[TZ] Direkt um die Kurve dann wieder taipeitypische teure europäische Autos...
[R] .... und weitere Barrikaden, hier vor einem Rolexgeschäft...
[R]... und bewachende Polizisten. Haben die zur Tarnung teils Bauhelme auf? Na ja, so richtig unauffällig ist das freilich nicht.
Und wie ist der aktuelle Stand? Jetzt ist die Luft raus aus den Protesten. Die ganze Zeit schon hatte ja der Parlamentspräsident namens Wang (KMT) eine Räumung des besetzten Parlaments unterlassen, wohl weil er auch den Handelsverträgen mit China kritisch gegenübersteht. So liest man. Oder jedenfalls weil er in der Vergangenheit zusammen mit der oppositionellen DPP den Verabschiedungsprozess der Verträge bis zu 6 Monate verzögert hatte. Das hatte ihm den Groll des Präsidenten Ma (KMT) eingebracht, der ihn deswegen der Parteimitgliedschaft und seiner Funktion entheben lassen wollte***, was aber nicht geklappt hat. Herr Wang ist sowieso ein alter innerparteilicher Konkurrent von Herrn Ma und man kann sich die Frage stellen, ob die Zusammenarbeit mit der DPP und die Duldung der Besetzung des Parlaments seitens Wang nicht nur dazu diente, Präsident Ma eins auszuwischen. Wie dem auch sei, jetzt nach längerer Besetzung tauchte Wang in staatsmännischer Manier auf, streichelte vor Fernsehkameras ein paar Studentinnenköpfe und sicherte zu, dass der Handelspakt mit China einstweilen nicht durchs Parlament käme. Weil er wolle erstmal ein Gesetz einbringen, welches Verträge mit China einem gesonderten Kontrollmechanismus unterwirft. Und nun hat die Mehrheit der Studenten zur Stunde offenbar beschlossen, die Besetzung abzubrechen. Wang soll seine Aktion nicht mit Ma oder der KMT angesprochen haben, aber hat jetzt sicherlich seine Lorbeeren (chinesisch/taiwanisch: sein Gesicht) auf Kosten des Präsidenten im Wert gesteigert. Wang jedenfalls hat auf den studentischen Elan wie eine Nadel an einem Ballon gewirkt offenbar.
Geht jetzt alles wieder seinen gewohnten Gang? Kommt der Vertrag oder nicht? Und entsteht aus der Studentenbewegung eine neue "Taiwan Independence"-Bewegung abseits der alten Tante DPP (die viele immer noch mit Korruption assoziieren)? Man darf gespannt sein.
*** Präsident Ma ließ sogar deswegen eine Zeit lang den gesamten Telefonverkehr des Parlaments abhören, weswegen der Justizminister zurücktreten musste
Fototechnisch: Sony Alpha 850, mit [F]: Sigma EX DG 2.8/15mm, [SW]: Soligor 3.5-4.5/19-35mm, [TZ]: Tokina AF 2.8-4.5/28-70mm, [R]: Tamron Aspherical 3.8-5.6/28-200mm
6 Kommentare:
Warum trägt die chinesische Reisegruppe neuerdings einen überdimensionalen grauen Pantoffel durch Taipei?
Das ist diskrimieniered: Während die hübsche Taiwanerin und der pflicztbewusste Polizist Gesicht zeigen dürfen, wurden die Chinesen entmenschlicht, zur anonymiserten grauen Masse. Ist das fair? fragt Luo You.
Liest du eigentlich den Blog "China Matters"? Da gibt es mindestens zwei recht umfangreiche Artikel und - meiner Ansicht nach - eine neutrale Analyse der Ereignisse. http://chinamatters.blogspot.tw/2014/04/whats-going-on-in-taiwan.html
Na ja, ich weiß nicht, ob es Internet gibt in WeiWeg Province und man könnte meine Darstellung möglicherweise als negativ interpretieren, völlig unrichtiger Weise, da mir die Gruppe und das partielle Anstarren des Blogautors als Metapher für die Distanz der glorreichen Volksrepublik im Vergleich zu Taiwan im allgemeinen und Taipei im besonderen diente. Oder es entsteht ein neuer Modetrend aus den Fotos, man weiß es nicht.
Die vorherige Antwort war an LuoYou.
@Xinxi: Bin über einen Facebook-Link drauf aufmerksam geworden. Dort gerade beunruhigende Szenarien für Taiwan gelesen: http://chinamatters.blogspot.tw/2014/03/from-kiev-to-beijingand-taipei.html
Zwischen meiner Frau und mir war es mittlerweile ein Running Gag, ob die Lage in Europa oder Taiwan eher kriegsgefährlich ist. Momentan wirkt Taiwan freilich wieder ruhig.
Du schreibst ja ganz richtig, dass der Präsidentenpalast von den Japanern erbaut worden ist. Stimmt, aber zwischendurch ist das Gebäude durch alliierte Bombenangriffe schwer beschädigt worden. Die ROC-Regierung unter Chiang war zwar korrupt und nicht sehr effektiv, aber zumindest wussten sie schöne Baudenkmäler zu schätzen und haben das Gebäude erhalten. Die Unabhängigkeitsaktivisten werfen der KMT ja die systematische Zerstörung des alten Taiwan vor, aber Flächenbombardements der Amerikaner und späterer Bauboom im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs sind vielleicht die wirklichen Schuldigen.
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