ICH schlage den gekauften SPIEGEL auf, sehe noch halb, dass es um die Unruhen in der Türkei geht und lese irgendwo rein und..... verstehe kein Wort! Das war ein Schock, das gebe ich gerne zu. "Verdammt, ist das Ding zweisprachig geworden?", denke ich. Denn zweifelsfrei lese ich Türkisch. Dann kommt die Aufklärung, das Ding hat nur 10 Sonderseiten auf Türkisch. Aber immerhin, ein kleiner Kulturschock. Ein historisches Datum vielleicht schon, das erste Mal, dass der SPIEGEL zumindest teilweise auf Türkisch ist, die neue Zeit mit mehr türkischsprachigen Menschen in Deutschland vorbereitend?
Mir als Langzeitauswanderer, der ein positives Verhältnis zum verlassenen Land hat, bereitet jede Veränderung in meiner Heimat leichtes Unbehagen, will ich doch scheinbar, dass das Land so auf meine Rückkehr wartet, wie ich es 2004 verlassen habe. Unsinn natürlich. Das Land verändert sich.
BESUCH beim lokalen türkischen Lokal. Der Ober sieht entfernt türkisch aus, wenn man mir solche groben Einstufungen vergeben will, spricht jedoch akzentfrei Deutsch und - ich meine sogar die typische Intonation meiner niedersächsischen Heimatstadt in seiner Sprache wiederzufinden. "Der ist deutscher als Du!", kichert ein kleines Juso-Männchen (da war ich ja mal Mitglied vor Jahren) vergnügt in meinem Kopf und freut sich, dass sich das kleine Sarrazin-Männchen, das sich vor einiger Zeit nach einschlägiger Lektüre bei mir eingenistet hatte, nun beleidigt grummelnd in eine Ecke verzieht.
JUNIOR und sein Vater hatten noch auf dem Frankfurter Flughafen eine junge (türkische?) Frau bewundert. Großgewachsen, attraktiv und mit einem ausgesprochen schicken rosafarbenen irgendwie glitzernden Kopftuch auf dem Haupt, dazu orange Ultra-Highheels, die sogar perfekt nach Taiwan gepasst hätten (wo die jungen Damen High-Heel-verrückt sind offenbar). Junior kicherte vergnügt ob des Kopftuchs und mir schwante schon, dass die Türken sich in all den Jahren auch verändert haben. Weg vom strengen islamischen Wickelkleid hin zu Chique.
IM EINKAUFSZENTRUM sieht Junior die ersten afrikanischstämmigen Leute seines Lebens, gleich in Form eines etwa dreijährigen Mädchens an der Hand seiner Mutter. Junior bekommt glasige Augen, nimmt die Hand des kleinen Mädchens und ist nur mit Mühe dazu zu bewegen, diese wieder loszulassen, so toll findet er seine Einkaufsbekanntschaft. Ich denke, er braucht beim Flirten noch etwas Fine-Tuning (ist ja noch keine zwei Jahre), aber die Szene hat schon etwas rührendes. Ihre nette Mutter und wir finden das ganze auch sehr amüsant.
Das Einkaufzentrum mit vielen kleinen Ladengeschäften sollte ein organisches Stadtzentrum in der Trabantenstadt ersetzen (Planung 70er Jahre). Geschaffen hatte man so tote Betonwüsten, die erst später durch Bäume aufgehübscht wurden.
LEUTE gehen vorbei, Lachen und sagen etwas über unseren auf dem Einkaufszentrum-Vorplatz dahin rasenden Junior. Meine Frau fragt mich, was sie gesagt haben und ich muss wieder mal erklären, dass ich keine Ahnung habe. Das nett wirkende, leicht untersetzte Paar in den späten Fünfzigern hat eine slawische Sprache gesprochen.
AM ALTPAPIERCONTAINER halten mein Vater und ich an, hinter einem Opel, in den gerade ein afrikanischstämmiger Mann einsteigen will, der selbst gerade alte Pappkartons recycelt hat. Mich wundert, dass er erschreckt wirkt und sich scheinbar kurz kampfbereit hinstellt, als mein Vater und ich aussteigen. Dann steigt er einfach ein und fährt weg. Trotz des zahlreichen Vorhandenseins dunkler Haut im Straßenbild hatte er offensichtlich Angst! Muss man sich also mit dunkler Hauptfarbe im gutbürgerlichen Reihenhauswohnviertel am helligten Tage fürchten? Offenbar ja, ohne Grund wird er sich nicht so verhalten. Mir fiel ferner auf, dass da früher ein Asylbewerberheim in der Nähe lag und die Anwohner das Vorhandensein von "Afrikanern" mit Drogenhändlern gleichgesetzt haben - ich dachte da etwa an einschlägige Gespräche mit einem Polizisten damals in meinem Bekanntenkreis. Der Mann steuert seinen Wagen jedoch in unser Reihenhausviertel. Befriedigt nehme ich zur Kenntnis, dass die Einwanderer nun in der Mittelklasse angekommen sind. Und schäme mich ein bisschen, dass der Herr mir so aufgefallen ist, nur weil es etwas anders aussieht - auch wenn ich im Gegensatz zu den Taiwanern in meiner Wahlheimat einen Andersaussehenden natürlich nicht angestarrt habe. Und auch nicht "Hello Hello!" gesagt habe.
Meiner Frau gefiel es hier im Stadtzentrum ausgesprochen gut und wir kamen oft ins Einkaufzentrum zum Spazierengehen. Hier konnte sie sich entspannen.
Ähnelte doch die Umgebung etwas Taipei - hier wieder im Bild (Taipei, Taiwan)
BEI ROSSMANN (nennen die sich nicht "der freundliche Drogerie-Discounter?") blafft Frau, Junior und mich eine ältliche Verkäuferin an, weil unser Sohn ein paar Verpackungen berührt hat und diese jetzt im 45-Grad-Winkel im Regal liegen, statt akkurat wie preußische Soldaten auf Habachtstellung zu stehen. Ich begreife zunächst nicht, was die Frau überhaupt meint und erst als ich ihr Aufrichten der Packungen sehe, versichere ich ihr, dass wir "solche schrecklichen Katastrophen" nicht mehr zulassen werden. Sie sieht mich merkwürdig an und beobachtet uns dann aus der Deckung einiger Regale heraus. Meine Frau fragt mich, wie kinderfeindlich Deutschland denn sei und will den Geschäftsführer sprechen. Wir beschränken uns aber darauf, ihr später alle möglichen Packungen in den Regalen umzusortieren und hinzulegen. Nett bei Rossmann, da lädt einen das Seniorenpersonal zu kleinen Spielchen ein.In Taiwan wäre die Verkäuferin bei solchem Verhalten vermutlich gefeuert worden, wenn wir es weitergemeldet hätten. In Deutschland ist sowas wohl normal. Senioren wollen vor Kindern ihre Ruhe haben.
Das Reihenhausviertel am Stadtrand hingegen, wo mein Elternhaus steht, fand meine Frau grauenhaft.
DAS WOHNVIERTEL meiner Eltern kommt mir ein bisschen so vor, wie es meine Frau schon immer gesehen hat. Breite leere Straßen, breite leere Bürgersteige, adrette unbelebte Fassaden und Vorgärten. In Zeitlupe fahrende Autos. Grimmige Rentner, die aus Reihenhäusern kommend ihre Wocheneinkäufe erledigen. Und uns böse anfunkeln, wenn wir bei über 30 Grad im Schatten den Motor und die Klimaanlage laufen lassen, wenn wir Junior irgendwo schnell das Fläschchen geben im Auto oder die Windeln wechseln. Ich denke: "Die Bäume werden schon noch so lange halten, wie ihr lebt, werte Senioren...."
JUNGE Elternpaare, modisch schick zurecht gemacht, leicht türkisch im Aussehen bisweilen, dann oft von niedersächsisch klingendem Deutsch auf einen Brocken Türkisch und wieder zurück wechselnd. Junge Paare auf paritätischer Basis, ganz anders als die "alten Türken", bei denen man oft gefremdelt hat. Etwa wenn die Frau früher ein paar Meter hinter dem Mann herging und die Tüten getragen hat. So ein Paar sehe ich auch noch, in den 60ern, mit strenger, freudloser Miene folgt eine in bunt bedruckte Tücher gewickelte Frau ihrem Manne drei Schritte hinterher. Alte Leute. Ein Relikt der Verangenheit.
Als Fazit nehme ich mit, dass Deutschland offensichtlich multiethnisch wird. Vielleicht ist meine Heimatstadt mit ihrem billigen Wohnraum im Zentrum da ein bisschen der Vorreiter. Aber warum auch nicht, können ja nicht überall nur Ökorentner und unfreundliche Drogerieverkäuferinnen im Vorrentenalter rumlaufen ;-)
Rein subjektive Wahrnehmungen, jeder wird es anders sehen.
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