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Montag, April 20, 2015

Älterer Ausländer flippt in U-Bahn aus / Taiwanhass

Wo kommt er her der Taiwanhass? Warum flippt ein westlicher Ausländer so in der MRT Taipeis aus, dass er abgeführt wird?

Taiwan ist ein Land starker Gegensätze. Oder eben auch die Hauptstadt Taipei, die oft gemeint ist, wenn Ausländer "Taiwan" sagen oder schreiben. Auch in der Wahrnehmung durch Deutsche oder Amerikaner oder andere westliche Ausländer kann Taiwan - oder eben meist Taipei oder eine andere Großstadt - sehr unterschiedliche Reaktionen auslösen.

Ein älterer westlicher Ausländer (alt jedenfalls gemessen an der Majorität der 20+ jährigen hier -das genaue Alter kann man schwer ausmachen, irgendwas zwischen Mitte 40 und Mitte 50) rastet in Taipeis U-Bahn MRT aus. Beschimpft Fahrgäste mit zahlreichen Fuck-Yous und Stinkefingern und äfft das asiatische Foto-Victory-Zeichen nach. Er steht offenbar völlig neben sich und hält die ganze Zeit über bizarrerweise eine Fresstüte von McDonalds und einen Getränkebecher. Offenbar ist der Mann bemüht, das taiwanische Klischee vom unbeherrschten und aggressiven Ausländer, der sein Lebtag nur Cola trinkt und Burger isst, perfekt umzusetzen.
https://www.facebook.com/mimic0207/videos/10205358975567007/?pnref=story
Großes Lob an die Fahrgäste, die bleiben ruhig. Nur ein junger Mann lässt sich etwas auf eine Diskussion ein, wird bisweilen geherzt von dem wirren Ausländer und antwortet diesem auf Taiwanisch anstatt auf Mandarin. Womit er praktisch sichergeht dass es nicht verstanden wird. Nicht das verkehrteste denn lt. Ausländerforum soll er Sachen sagen wie "du hast ein Problem im Kopf", was sicherlich unstrittig ist zum gegebenen Zeitpunkt. Niemand lässt sich provozieren, irgendjemand ruft die Security, die auch sehr ruhig bleibt. Es fällt auf, wie ein Securitymitarbeiter den Ausländer beruhigt, ihm auf den Rücken klopft - eher beruhigend als gelte es ein Kind ruhig zu stellen. Es funktioniert, der ruhiger gewordene wirre Mann wird am Schluss friedlich abgeführt und die Fahrgäste bleiben grinsend zurück.

 Taipei-Jonghe: Das hübschere Haus vorne links ist erst in letzter Zeit gebaut. Auch ohne bläuliche Fensterscheibe, durch die ich fotografiert habe, sehe das Bild nicht wesentlich anders aus sondern bliebe eine grau-okerfarbende Wüste mit viel Beton und wenig Architektur


Ausflipper sind im überfüllten und hektischen Taipei kein Ausländerding allein. Auch wenn die Taiwaner meist sehr ruhig und kontrolliert sind habe ich auch schon Taiwaner beim Ausrasten erlebt (verschmitzt hinzugefügt: auch außerhalb meiner Taiwanfamilie). Sie klappen, wenn sie sich aufregen, von extrem ruhig schlagartig zu extrem durchgedreht, was wohl mit der - dann versagenden - konfuzianischen Gefühlkontrolle zu tun hat. Ob der nicht mehr ganz junge Ausländer schon länger hier ist? Ich vermutete einen langjährigen und vielleicht jobmäßig glücklos gewordenen Englischlehrer, wer weiß. Gerade in der MRT durchzudrehen ist natürlich ein dramatischer Ort dafür und garantiert mediale Aufmerksamkeit, wie auch geschehen. Ich konnte nicht umhin zu denken, was wenn es ein Afroamerikaner in den USA gewesen wäre? Dann hätte die US-Polizei ihn sicher erschossen, immerhin war er mit Burger und Getränk bewaffnet.
Persönlich habe ich einmal einen westlichen Ausländer in Taipei erlebt, der in einen irren Mandarin-Schreianfall mit rudernden Armen verfiel. Das war 2004, als ich ihn gerade angekommen in unserem Viertel mit einem "Hello" bedacht hatte. Seither ignoriere ich alle Johnny Weißbrots hier, die ich nicht persönlich kenne.
Taiwaner habe ich schon öfter beim Ausflippen erlebt, etwa vor 2 Jahren einen um 5.30 Uhr im Viertel herum schreienden Mann, der auch völlig außer sich war uns ständig "gan", also "fuck" schrie. Oder eben die Ausflipper und grenzwertigen Angriffe durch andere Verkehrsteilnehmer. Aber da gibt es wenigstens einen Anlass.

Was kann westliche Ausländer dazu bringen, in Taipei oder ähnlichen Großstädten so völlig abzudrehen? Es gibt ja regelrechte Hassseiten im Internet, mit denen meist wegziehende Ausländer ihrem Gastland einen wütenden Stinkefinger zeigen. Der Klassiker hier ist das 2006er "I hate Taiwan" - Miniblog:
http://ihatetaiwan.blogspot.tw/

Nun, das I-hate-Taiwan-"Blog" versucht die Frage zu beanworten und nennt viele negative Dinge taiwanischer Großstädte wie Smog und viele Mopeds und hässliche Architektur. Dinge, die 2006 abgesehen von der konstanten Mopedflut noch schlimmer waren als heute. Konkret kann sich ein westlicher Ausländer, der vielleicht eine ruhige Straße mit viel Platz und klarer Luft in seiner Heimat gewohnt war, in Taipei und ähnlichen Orten in solchen Umständen wiederfinden:

- billige Schlichtwohnung mit Riesenkäfern im Sommer, undichten Schiebefenstern, ohne Heizung im Winter und Rotz- und (wohl Hunde-)Urin-verkrustetem Treppenhaus mit toter Ratte. Die Treppenhäuser scheinen etwa seit 2010 wesentlich sauberer zu werden, von daher sind solche Extremfälle selten geworden

- immer noch viel graue Plattenbauweise mit - auch hier Tendenz stark fallend - Müllhaufen zwischen den Häuserreihen (2004-2008 etwa noch Standard, heute selten)

- kaum oder keine Bürgersteige im Viertel, aggressive Mopedfahrer und Autofahrer die Fußgänger anstoßen während der Fahrt oder weghupen wollen.

- Smogverpesstete Straßenschluchten (Tendenz fallend dank MRT-Ausbau)

- chemisch stark belastetes Essen, das auf den Magen schlagen und allergische Symptome auslösen kann (Tendenz zunehmend meinem Magen nach zu urteilen)

- gerade in billigen Wohnhäusern lärmende Nachbarn, die ab 5.30 Uhr morgens hämmern. Frühstücksbuden, die ab 5.00 Uhr für lautes Gekeife und Geschirrklimpern sorgen, das durch die einfachverglasten Schiebefenster dringt.

- ewig lärmende Mopeds mit frisierten Schalldämpfern

Die Liste ließe sich noch fortsetzen. Gerade 2006 (vgl. das Hassblog) bestand auch das Stadtzentrum von Taipei viel aus grauen Schlichtbauten, da wo heute entspannende moderne Einkaufsstraßen sind, die teils erst vor kurzem fertig gestellt worden sind.

Für alt werdende Englischlehrer in Taiwan kommt noch dazu, dass sie grauhaarig sehr schlecht Stellen finden, weil sie nicht mehr dem Klischee des jungen Entertainers aus USA entsprechen, dass die Englischschulenszene kolportiert. Vergleiche hier auch das dramatische Ende eines US-Marineoffiziers auf Taiwan, dessen philippinische Freundin eine Taiwanerin ermordet hat durch Geldnot getrieben: http://osttellerrand.blogspot.tw/2007/09/murder-in-foreigner-scene-in-taiwan.html

Neulinge in Taiwan preisen die hübschen Frauen, das leckere Essen, die freundlichen Menschen und die schicken Tempel während Langzeiter oft genervt sind. Wie auch ich die Tage, etwa durch allergische Erscheinungen durch wohl wieder mal chemisch belastetes Essen zum x.ten Male. Oder den Verkehr. Oder die grauen bürgersteiglosen Gassen.

Taipei und Konsorten sind keine Kurorte. Oft hängt man hier fest. Entweder weil die einheimische Angebetete hier nicht weg will oder weil die Insel im Falle von geringqualifizierten englischen Muttersprachlern zur einzigen Einkommensquelle durch Englischunterricht geworden ist*. Es gibt wohl nur wenige Langzeiter die die quirlige Insel hier wirklich lieben. Im Sinne von "lieben hier zu leben". Und die sind vielleicht schon längst im geistigen Nirwana angekommen. "Merken nichts mehr", um es uncharmant zu sagen. Dann braucht der Herr aus der U-Bahn vielleicht einfach noch ein bisschen mehr Zeit.

* Das beantwortet auch die Neulingsfrage: "Warum gehst du nicht weg, wenn es dir nicht gefällt."

Edit: Taiwan hat meinen Artikel mit einem sofortigen heftigen Erdbeben beantwortet.

5 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Bei Langzeitern ist es meines Erachtens eine richtige Hassliebe zu Taiwan, vielleicht so wie nach 40 Jahren Ehe, nur dass dies schon nach 5 Jahren eintritt ;)

So derart auszurasten ist natürlich uncool und braucht jetzt wieder ein halbes Dutzend fleißig Chinesisch lernende Ausländer, die am alljährlichen Zungenbrecherwettbewerb teilnehmen, um den negativen Eindruck zu relativieren.

Dennoch sind mir Langzeiter, sofern sie nicht grad voll am ausrasten sind, als Gesprächspartner über Taiwan weitaus lieber als Kurzzeiter. Letztere reagieren immer so verwirrt auf Fragen, ob man sein Kind jetzt lieber in einen öffentlichen, privaten oder gar keinen Kindergarten schicken sollte. Kann man halt nicht essen (...oder sollte man besser nicht)

dunkelangst hat gesagt…

Hi Ludigel!

Danke für deinen Beitrag!

Zitat: "Ausflipper sind im überfüllten und hektischen Taipei kein Ausländerding allein. Auch wenn die Taiwaner meist sehr ruhig und kontrolliert sind habe ich auch schon Taiwaner beim Ausrasten erlebt (verschmitzt hinzugefügt: auch außerhalb meiner Taiwanfamilie). Sie klappen, wenn sie sich aufregen, von extrem ruhig schlagartig zu extrem durchgedreht, was wohl mit der - dann versagenden - konfuzianischen Gefühlkontrolle zu tun hat."

Als ich in Taiwan gelebt habe, waren die Taiwaner immer ruhig in meiner Gegenwart. Als ich im Dezember 2014 wieder in Taiwan war, um meine Taiwanischen Freunde zu besuchen, habe ich zum ersten Mal einen Ausraster miterleben "dürfen". Ich war wirklich schockiert: in einer Sekunde saß eine liebe und sanftmütige taiwanische Frau vor mir, die mich (zu Recht) kritisierte. Da sie sehr respektvoll mit mir umging und ich sehr intensiv zugehört habe, habe ich dabei ein kleines bisschen gelächelt - für mich ein Zeichen für besondere Aufmerksamkeit, die ich ihr zukommen lassen wollte. In der nächsten Sekunde ging sie voll an die Decke - ich habe, den Drachen der in ihr lebt, erahnen dürfen und musste ein wenig Schwefel riechen. Sie fühlte sich durch mein leichtes bis sanftes Lächeln provoziert in dem Sinne, dass ich sie genau nicht Ernst nehmen würde.

Es war für mich das furchtbarste Erlebnis, welches ich jemals bei einer Frau erleben durfte. Dennoch war es einer der glücklichsten Momente für mich mit dieser Taiwanerin: Selbst in diesem Wutausbruch gab sie mir das Gefühl mich zu respektieren - ein Gefühl, welches ich bei vielen Deutschen Mädels im Allgemeinen immer völlig vermisst habe.

Später, nach dieser Meinungsverschiedenheit bzw. auch Missverständnissen, habe ich ihr das auch gesagt. Sie hat sich darüber ebenfalls sehr gefreut und schlussendlich haben wir wohl beide in dieser Auseinandersetzung viel von- und miteinander gelernt.

Die Worte, dass ein Konflikt immer auch eine Chance ist, haben mit ihr zusammen für mich eine neue Bedeutung bekommen.

Viele Grüsse aus der Schweiz!

"Ludigel" hat gesagt…

Jau, die Drachendamen ;-)

Karl hat gesagt…

Den "Blues" bekommt man nach einer Weile in jeden Land nicht nur in Taiwan.
Es gibt sicher vieles was hier verbesserungswürdig wäre aber wo nicht.

Ich habe gut reden denn nach 7 Jahren Überlebenstraining (Essen, Straßenverkehr) in Taiwan werde ich mich wieder auf den Weg in die Zivilisation (der sogenannten) machen.

:-)
Karl

P.S: Irgendwie habe ich Probleme Kommentare zu senden

"Ludigel" hat gesagt…

Karl: Habe Dienen Kommentar mehrfach, kam also alles an. Wenn ich die Captchas ausschalte, ist wieder so viel Spam in der Moderationsliste und ich komme wieder nicht hinterher...