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Dienstag, Dezember 24, 2013

Tod vor der Haustüre

Taipei hat viele ältere Leute, vorwiegend Frauen, die ihre oft nicht vorhandene Rente mit Sammeln von Recyclinggütern aufbessern, siehe auch Vorbericht hier: http://osttellerrand.blogspot.tw/2013/11/mullverwertungsplatz-in-taiwan.html. Eine solche Müllverwerterin hatte ihr inoffizielles Geschäft auch direkt vor meiner Haustür, wie man in dem folgenden Foto sieht:

Hier ist der Großteil des Mülls schon abtransportiert - die Dame bringt normalerweise ihre Pappkartons, Flaschen und Dosen mit dem im Bild zu sehenden Handwagen zur Sammelstelle, aber manchmal kam ein LKW, so viel Zeug hatte sich im Kurvenbereich angesammelt. Der wilde Recyclingplatz fand im Wesentlichen im öffentlichen Verkehrsraum statt und nahm manchmal einen Großteil der Straßenbreite ein, so dass PKWs manchmal nicht durchfahren konnten. Ich selbst habe auch schon mal die Bodenfreiheit meines SUVs ausgenutzt und bin geländemäßig über ihren Kartonberg gefahren, einfach um einen langen Umweg zu vermeiden. Dass keine Missverständnisse aufkommen, dies ist keine Beschwerde, sondern soll nur das Umfeld der Müllverwerterinnen aufzeigen inklusive der Platznot unter der sie arbeiten. Ein Ordnungsamt im deutschen Sinne, das einen illegalen Recyclingbetrieb im öffentlichen Verkehrsraum stilllegen würde gibt es hier nicht. Und wenn mich auch ihr Flaschengeklirr manchmal wochentags um 1 Uhr morgens aus dem Schlaf holte so dachte ich mir doch stets, dass die alte Dame hier ältere Rechte hat am Orte, wo ich sowieso ein Fremder bin. Mir fiel freilich oft auf, wie gefährlich der Job für die alten Leute ist. Denn wenn sie nachts die Kreuzung im Bild mit Kartons vollgestellt hatte und selbst dunkel gekleidet dazwischen herum lief und ohne zu gucken auf die Fahrbahn trat, während gleichzeitig Autos durchfahren wollten, ergab sich schon manchmal plötzliches Bremsen und böses Gehupe der Autofahrer. Auch der Transport des Mülls zur ca. 2 km entfernt liegenden Verwertungsstelle (http://osttellerrand.blogspot.tw/2013/11/mullverwertungsplatz-in-taiwan.html) mit dem Handwagen durch die vollen Straßen ist nicht ganz ohne. Gefährlicher ist aber sicher das nächtliche Sammeln mit unbeleuchtetem Handwagen - denn die Damen sind in dunklen Gassen kaum zu sehen durch die getönten Scheiben der Autos hier.

Neulich hatten Frau, Junior und ich einen Trip nach Mitteltaiwan unternommen. Da haben wir bei einem Unternehmen bei Taichung unser neues Auto mit einem Kamerasystem (ähnlich Blackbox) ausstatten lassen und als wir im Warteraum saßen, da flimmerte über den Fernsehschirm plötzlich mein heimatlicher Straßenzug (gleich fotografiert, aber noch in der Kamera). Ein unglaublicher Zufall! Wieso zeigen die meinen Wohnblock im nationalen Fernsehen? Die gruselige Antwort folgte sogleich: Die Dame war angefahren worden bei einer nächtlichen Müllaktion und lag im Koma, mittlerweile soll sie verstorben sein. Und irgendwie fehlt jetzt was an der Straßenecke. Ich erinnerte mich noch, neulich durch lautes nächtliches Geschrei und Gerufe geweckt worden zu sein, bin aber sofort wieder in den Schlaf gefallen. Ob es damit in Zusammenhang stand, weiß ich natürlich nicht.
Ich gebe zu, Müllberge wie der ihrige verschönern die Gegend nicht gerade, aber die Leute machen es ja nicht aus Spaß an der Freud und die Gefahr beim nächtlichen Werken ist offenbar groß.

***

Zum Verständnis: Dies ist keine Beschwerde, keine Wertung. Hier wird nur ein Teil des Lebens Taiwans geschildert, das einem so oft entgeht, wenn man nur an Computer oder das Hochhaus 101, Tempel und tolles Essen denkt. Die Dinge sind wie sie sind und wenn sie vor meiner Haustür stattfinden, schreibe ich halt drüber. Wen dieser Bericht verstört, der möge erst mal die Einführung zum Blog lesen vorm Kommentieren, danke.

EDIT: Leider keine schöne Geschichte zu Weihnachten, die sich dieser Tage vor meiner Haustür zugetragen hat.

Hinweise:

1) Mittlerweile hat Taiwan eine Rentenversicherung. In früheren Jahren gab es die aber nur für Angehörige des öffentlichen Dienstes inklusive Militär und deren Witwen. Die ältere Dame im Bild wird also vermutlich keine gehabt haben, sonst hätte sie den Job wohl nicht gemacht.

2) Taiwan hat eine günstige gesetzliche Krankenversicherung

10 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Nussknacker wrote:

Nochmal geschrieben, den alten kommentar hattest du gelöscht: In Taichung gibt es einen sozialen Dienst, da könntest du was machen für die Leute.

fingertipp hat gesagt…

Hallo! Lese seit geraumer Zeit mit (hauptsächlich wegen Klaus) und vieles, aus den Augen eines Expats gesehen, klingt vertraut.

Bin der andere Deutsche aus dem Karree. Friseurinnen wissen mehr.

Frohe Weihnachten!

P.S.: Die Schlagzeile hat was von "Bild".

"Ludigel" hat gesagt…

Frohe Weihnachten auch. Ah ja, etwas reißerisch geworden ;-)

"Ludigel" hat gesagt…

Muss gleich mal gucken, Karree?

fingertipp hat gesagt…

Ein paar Häuserblocks weiter -- Sonnenscheinstraße.

"Ludigel" hat gesagt…

Du wohnst also in der Tat ein paar Häuserblocks weiter? Dann könnte man sich ja glatt mal zum Papp-Eistee irgendwo treffen...

fingertipp hat gesagt…

Lässt sich einrichten. Gibt es hier die Möglichkeit einer PN?

"Ludigel" hat gesagt…

kontakt@globalforeigner.com

Pfeffersack hat gesagt…

Hallo Ludigel,
Auch mal von mir frohe Weihnachten. Ich bin auch so'n Oldtimer wie du - allerdings aus dem Langnasen-Ghetto in Tian Mou.
Ich lese dein Blog auch öfter
und wundere mich, das du dich auch immer noch nicht an viele Sachen gewöhnt hast (geht mir nicht anders)
Ach ja, fotografieren tu' ich auch: und zwar nicht digital - IST DOCH ALLES PLASTIK! Sondern schwarzweiss mit eigener Dunkelkammer.
Meine Flickr-Sammlung gibt es hier:

http://www.flickr.com/photos/jens_finke/


jens

Anonym hat gesagt…

Hey Ludigel,

Schön das der Blog wieder erreichbar ist :) Kleine Anmerkung: Du musst dich für deine Meinung nicht entschuldigen bzw. dich ausschweifend erklären oder Geschriebenes relatvieren. Bin auch nicht immer deiner Meinung aber man muss vor Meinungsfaschisten auch nicht den Bückling machen.

Dann noch ein frohes Fest nachträglich und einen guten Rutsch im Voraus.