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Mittwoch, Juli 10, 2013

Taiwanerin im Deutschlandkoller

Kulturschock, nicht nur für Westler

Nachträglich sei ein Vorwort eingefügt. In Taiwan lebende Westler bringen es manchmal fertig, im Ausländerforum regelrechte Hasstriaden gegen ihr Gastland Taiwan abzusondern, die auch mich manchmal noch erschrecken. Und dort mitlesende Taiwaner sowieso. Das passiert, wenn man feststellt, dass im Gastland alles anders ist, als zu Hause. 
In diesem Sinne soll dieser Artikel verdeutlichen, dass Taiwaner zu identischen Reaktionen fähig sind, wenn sie einer fremden (i.d.F. westlichen) Kultur ausgesetzt sind. Ich erkläre das gern mit der Kutlurmatrix, die die Werte wie "sucheren Straßenverkehr", "saubere Umgebung" und "Familiensinn" enthält und in Taiwan und Deutschland fast schon gegensätzlich "gefüllt" ist (etwa: sicherer Straßenverkehr wichtig für Deutsche, für Taiwaner ganz und gar nicht). Letztlich hilft aber alles Analysieren und Planen nicht, wie mir unser Deutschlandtrip gezeigt hat ;-)

Der gerade vergangene Deutschlandtrip (fast möchte ich noch ein "...per" anfügen) meiner Frau, Junior und mir ist dermaßen schief gegangen, dass ich ihn geistig in eine Reihe mit Hindenburgs Idee, jemanden mit Charlie-Chaplin-Bart zum Kanzler zu machen, dem Absturz der Hindenburg, dem Untergang der Titanic ohne Celine Dion und dem Wedeln von Chamberlain mit dem Papierchen vor dem zweiten Weltkrieg in Verbindung bringe. Um auch jüngere Leser hier abzudecken: Stellt euch vor, der Bass beim Techno fällt aus, die Designerdroge rutscht in die Hose, der Engergydrink scheckt nach Leberwurst und das Zungenpiercing der Freundin hat Rost angesetzt. Okay, so sehr wie ich nicht mehr up to date bin, sind die Technoleute wahrscheinlich auch schon längst alle Mitte 30 und Bürokaufleute.

 Im braven niedersächsischen Reihenhaus meiner Eltern  hat sich meine Frau nie wohl gefühlt

Um es einfacher zu sagen, der Trip war eine Katastrophe. Nun war meine Frau schon in vergangenen Jahren hypergenervt in Deutschland und hatte ja nach ihrem Umzug in das selbige am Anfang unserer Ehe förmlich medizinisch relevante Ausfallerscheinungen, so dass ich mir diesmal also vorgenommen hatte, alles besser zu machen, ihr diesmal den Aufenthalt so einfach wie möglich zu gestalten. Nur nicht aufregen, wenn sie aufgeregt ist, ihr mehr bei der Versorgung von Junior (noch keine Zwei) helfen, schließlich ist Schwiegermama nicht dabei, die sich sonst immer um Junior kümmert.
Ausflüge irgendwohin ohne meine Eltern wollten wir machen. Ich fühle mich ja in Gegenwart meiner Schwiegermutter auch nicht gerade wohl, die die letzten Jahre einfach durch mich durch guckt, als sei ich nicht da und kein Wort mit mir redet (EDIT: das ignorieren von Weißen hat eine lange Tradition in China und meine Taipei-Familie ist ehr chinesisch als taiwanisch, das sei hier noch angemerkt. Man ist nicht richtig da, wenn man nicht sinoid ist, so ist es wohl ;-) So benehmen sich meine Eltern zwar nicht, aber ich sehe ein, in Gegenwart der Schwiegereltern ist man immer gehemmt irgendwie. Insbesondere wollten wir ihren alljährlichen "Auszug ins Hotel" vermeiden, denn jeden zweiten oder dritten Tag im Elternhaus bei mir in Niedersachsen überkam sie bislang der Deutschlandkoller dermaßen, dass sie bisweilen nächtens in einer Fünfminutenaktion mitsamt Junior sogar verschwand und dann erst mal für eine Nacht im klimatisierten Hotel ihren Gemütszustand erholte.

Alles erschien ihr wild und unzivilisiert

Never mind. Wo waren wir? Ach ja, der Hotelauszug. Der war schon zu einem Running Gag zwischen mir und meiner Frau geworden, wir machten Witze drüber, wie etwa den, diesmal solle ich ins Hotel gehen, mal der Abwechselung halber.

 Selbst gemütliche Straßenkaffees in der Fußgängerzone fanden nicht ihre Gnade

Doch wie kam es? Frau hatte sich in Taipei den Fuß mehrmals angeknakst, weil es IN TAIPEI vor lauter die seltenen Bürgersteige zuparkenden Autos keinen Platz für Kinderwagen gibt. Trotzdem sind natürlich die breiten, leeren, toten Bürgersteige Niedersachsens viel schrecklicher, da hat meine Frau schon Recht. Wie dem auch sei, sie saß also nur in meinem alten "Kinderzimmer" in meinem Elternhaus, kochte fast unter dem Dach des Reihenhauses und spielte auf meiner alten Stereoanlage meine alten Kassetten (für jugendliche Leser: platte CDs, die kennt ihr noch von den Eltern. Oder MP3 in Tüten. iTunes ohne "i" und dafür mit Plastik). Exkursionen waren erstmal vom Tisch. Das grüne Naturschutzgebiet um mein Elternhaus herum wartete mit einer schrecklichen Mückenplage auf dieses Jahr und ohne Fliegengitter war sogar ich genervt. Gott sei Dank fand ich noch meine alte Klimaanlage aus den 90ern, mit denen ich mich einst bei den Prüfungen zum Informatikdiplom abgekühlt hatte im Sommer: ein schreckliches lautes Ding, dessen Schlauch man aus dem Fenster hängen muss (damit die Mücken besser rein kommen) und das aber Gott sei Dank sofort ansprang und 1000 Watt kühle Luft ins überhitzte Kinderzimmer pumpte.

Eine dunkle Höhle sei mein altes Jugendzimmer, sagte meine Frau

Junior sollte eigentlich dieses Jahr bei meinen Eltern im großen Reiheneckhausgarten spielen und so machten wir drei Taiwaner eine vorsichtige Exkursion in den selbigen. Misstrauisch beäugte meine Frau das viele Grün, dass ihr in Taipei großgewordenerweise von vorn herein schon suspekt ist. Giftspinnen und Krankheiten vermutet sie da im Ziergebüschunterholz. Mutig setzten wir drei asiatische Großstädter unsere bleichen Füße in den kurzgemähten Rasen. Da nahm die Katastrophe seinen Durchlauf. Die niedersächsische Fauna schlug mit allem zu was sie an wilden Tieren zu bieten hatte. Mücken umsummten Frau und Junior, Frau nahm Juniors Hand um den Schlittenhund meiner Eltern von oben zu streicheln, dieser erschreckt sich und grummelt vor sich hin.



Der Reihausgarten nebst Haushund war ihr unheimlich

Da wusste ich, jetzt ist es passiert. Es kam auch so wie gedacht, meine Frau war fast nur noch oben in meinem alten Zimmer, die Klimaanlage und Ventilator liefen, so dass ich Halsschmerzen bekam, meine Frau verbrachte die Zeit verbarrikadiert vor dem schrecklichen Deutschland im Internet. Junior wurde auch wunderlich, aß nicht mehr. Frau und ich wurden nervös. Schrecklich waren diese Momente, wenn mich die deutsche Normalität erwischte und ich bizarre Dinge vorschlug, wie Junior einfach in den Garten zu bringen für ein paar Minuten. Dann spielte auf der Stereoanlage Jerry Lee Lewis und schickte seine Great Balls of Fire durch den Raum. Meist tanzte Junior allerdings zu dem von mir selbst in den 80ern aufgenommenen Soundtrack von "Florida Lady", das muss eine ZDF-Sendung von annodazumal gewesen sein. Vielleicht hat das ja irgendeien metaphysische Bedeutung, dies Wort "Florida Lady" oder der im Soundtrack enthaltene Elvis-Titel "Flaming Star" sollte mir irgendwas sagen. "Every man, has a flaming star .... and when I see my flaming star, I know my time has come" sang Elvis die ganzen zwei Wochen und ich dachte, ich habe einen niedlichen roten Drachen, dass ist auch was. Was immer das auch heißen soll.

 Das ganze Viertel sei ein unheimlicher Ort, wie ein Gefängnis

Meist saß ich also mit Schal in meinem auf Kühlschranktemperatur abgekühlten Kinderzimmer, schlug Mücken tot, während meine Frau im Internet surfte und Junior zu "Locomotion", Great Balls of Fire, Rock around the clock und Flaming Star tanzte. Und meine seit Jahrzehnten kaum veränderten Jungendschränke aufräumte. Ich war auch ganz erstaunt, was wir da alles gefunden haben. Jau, ein Motor für die alte Minolta XD-7, da war der also die letzten zwanzig Jahre. KAWUMM. Okay., never mind.

 Öffentliche Verkehrsmittel und alles andere veraltet und schmuddelig

Dann kam es wie es kommen musste. Die Sache mit dem Schlittenhund, ein paar Mücken im Schlafzimmer noch dazu und schwupps, war meine Frau wieder im Hotel.

 Das ganze Reihenhaus ein unzumutbarer Ort...

Jetzt steht Deutschland, das über die Jahre bei meiner Frau auf der Nationenbeliebtheitsliste immerhin zwischen Gabun und Eritrea stand, wieder irgendwo zwischen Indien (vgl. unseren letzten Horrotrip dort hin) und dem Irak (weiß auch nicht, was sie gegen den hat). Dort jemals längere Zeit zu zubringen ist für sie so erstrebenswert wie eine Wurzelkanalbehandlung von Didi Hallervorden zu bekommen (Version für jüngere Leeser: von Guido Westerwelle) und ich frage mich, wie ich die neuen Irritationen zwischen Gattin und ihren Schwiegereltern wieder diplomatisch ausgleichen soll. Etwa bei der Beantwortung der Frage, was hinter diesen plötzlichen Hotelauszügen stehe ("ach nichts....").

Und auch das Essen barbarisch und befremdlich.

Nur bei Trips in die Markthalle und unserem Solotrip in den Zoo war sie wohlgemut, meine Frau. Da durfte ich sogar die Trüffel von Trüffel Güse kaufen (in der Markthalle Hannover, nicht im Zoo). Die sind teuer und lecker und ich verbinde sie mit Erinnerungen an einen weiblichen Hobbit, der immer nur in Strumpfhosen herumlief (ah, das war eine Fantasyspielgruppe, erinnere mich wieder richtig). Ein Hobbit, der bei Trüffel Güse gearbeitet hatte, um das Leben der Arbeiterklasse kennenzulernen. Aber das ist eine andere Geschichte.


2 Kommentare:

Miri hat gesagt…

Ich glaube so langsam, dass Du es von meinen Freundinnen und Freunden, die mittlerweile auf der ganzen Welt verteilt/mitunter verheiratet/manche auch temporär verschollen sind, am extremsten getroffen hast... ;-) Und das will nun wirklich was heißen.

Ich hoffe Deine Eltern bekommen bei der nächsten Stromrechnung keinen Nervenzusammenbruch.

"Ludigel" hat gesagt…

Hallo Miri,

habe den zweiten Kommentar natürlich zu Kenntnis genommen, will ihn wegen der Google-Verbandlung aber nicht veröffentlichen. Recht hast Du natürlich.

Habe meinem Vater allerdings 50 Euro Strompauschale ungefragt überwiesen, damit der Schoch nicht so hoch ausfällt.

Jau... nächstes Jahr komme ich sicher allein, wir brauchen alle mal eine Pause ;-)